エピソード

  • Von Zivilcourage, Schuld und Vergebung
    2025/07/01
    Von Zivilcourage, Schuld und VergebungEr war als Pfarrer und Dichter nach NS-Diktatur und Krieg eine vielbeachtete Stimme für Versöhnung und gegen Wiederaufrüstung. Heute ist die Erinnerung an Albrecht Goes verblasst – zu Unrecht. Zivilcourage. Dafür hat die deutsche Sprache nur ein Fremdwort. Doch es gibt sie – und es gab sie selbst unter der Diktatur, wo Zivilcourage lebensgefährlich sein konnte. Albrecht Goes war „durch und durch ein Citoyen“, schrieb der Pfarrerkollege Herwig Sander 2008 zum 100. Geburtstag: ein Bürger, der im Sinne der Aufklärung den Staat, das Gemeinwesen, mitgestaltet. Das schließt auch Zivilcourage ein. Als Dichter und als Theologe war Unruhe für ihn die erste Bürgerpflicht – nicht als Aufsässigkeit, „aber als Wachsamkeit um jeden Preis“. Den Heldinnen und Helden des Alltags in der Nazizeit, die wachsam waren und Zivilcourage bewiesen, hat Albrecht Goes in seiner Erzählung „Das Brandopfer“ (1954) ein Denkmal gesetzt. Die jüdische Bevölkerung einer Stadt darf nur noch in einer einzigen Metzgerei einkaufen, und auch dies nur für zwei Stunden pro Woche. Die Metzgersfrau muss mit ansehen, wie der Kreis ihrer jüdischen Kundschaft immer kleiner wird, immer mehr werden deportiert. Trotz strengen Verbots bemisst sie die kargen Rationen so großzügig wie möglich und steht den Bedrängten auch sonst bei. Immer stärker wird sie zur Mitwisserin, zur Vertrauten. „Und das ist die winzige, die wunderbare Möglichkeit des Menschen. Man kann ein Einwickelpapier weitergeben und eine Nachricht darin unterbringen. (…) Eine Stunde Vertrauen, ein Atemzug Frieden.“ Doch weil sie am Ende nicht helfen kann, fühlt sie sich schuldig und bleibt bei einem Luftangriff in ihrem brennenden Haus: Sie will ein Opfer bringen, ein Brandopfer. Ausgerechnet ein Jude rettet ihr das Leben. Zivilcourage bewies auch die Pfarrfrau Elisabeth Goes, die als Mitglied der „Württembergischen Pfarrhauskette“ 1944 das jüdische Ehepaar Max und Ines Krakauer vier Wochen im Pfarrhaus von Gebersheim nahe Stuttgart versteckte, später noch zwei jüdische Frauen. Die Pfarrhauskette war eine Untergrundorganisation, die Juden und anderen Verfolgten Zuflucht bot. Ihr Ehemann erfuhr erst nach seiner Rückkehr aus dem Krieg davon. Elisabeth Goes wurde später vom Staat Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. „Das Brandopfer“ war das erste literarische Werk eines nichtjüdischen Autors, das die deutschen Verbrechen an den Juden zum Thema machte. Die Erzählung wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt und verfilmt. Sie war auch ein früher Beitrag zur Versöhnung nach der Shoa. Der evangelische Pfarrer Albrecht Goes hatte bereits 1934 mit dem damals noch in Deutschland lebenden jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber Kontakt aufgenommen. Als dieser 1953 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, hielt Goes die Laudatio. Schuld und Vergebung: ein großes Thema des 1908 in einem schwäbischen Pfarrhaus geborenen Autors. Als Militärpfarrer musste er am Russlandfeldzug teilnehmen und in mehreren Fällen zum Tod verurteilte Deserteure bis zur Erschießung begleiten. Dies hat er in der knappen Erzählung „Unruhige Nacht“ (1950) verarbeitet, die ein großes internationales Echo hatte. Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi in Turin, die jüdische Dichterin und spätere Nobelpreisträgerin Nelly Sachs in Stockholm, Thomas Mann, noch in Kalifornien, Hermann Hesse, Carl Zuckmayer und andere waren von dieser Geschichte beeindruckt. In der heutigen Ukraine lernt ein deutscher Soldat eine junge Witwe mit kleinem Kind kennen, deren Mann von seinesgleichen, den Deutschen, getötet worden ist. Eine Liebe im Krieg – der Deutsche tarnt sich als ukrainischer Bauer und will ein neues Leben beginnen, wird durch Zufall verraten und nach Kriegsrecht hingerichtet. Der Wehrmachtspfarrer, Alter Ego von Albrecht Goes, sagt vorher im Gespräch mit einem anderen deutschen Pfarrer: „Wir sind hineinverstrickt, der Hexensabbat findet uns schuldig, uns alle.“ Doch wenn eines Tages alles vorbei wäre, dann käme es darauf an, den Krieg zu entzaubern: „Man muß es dem Bewußtsein der Menschen eintränken, wie banal, wie schmutzig dieses Handwerk ist. (…) Krieg, das ist Fußschweiß, Eiter und Urin. Übermorgen wissen das alle und wissen es für ein paar Jahre. Aber lassen Sie nur erst das neue Jahrzehnt herankommen, da werden Sie’s erleben, wie die Mythen wieder wachsen wollen wie Labkraut und Löwenzahn. Und da werden wir zur Stelle sein müssen…“ Albrecht Goes war zur Stelle, als in der jungen Bundesrepublik wieder eine Armee aufgebaut werden sollte. Gemeinsam mit dem Theologen Helmut Gollwitzer, dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann und vielen anderen schloss er sich der „Paulskirchenbewegung“ an, die sich gegen die Wiederbewaffnung einsetzte und 1955 in der Frankfurter Paulskirche ein Manifest verabschiedete. „Unruhige Nacht“ ...
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  • Reklamekönig und Säulenheiliger
    2025/06/01
    Reklamekönig und SäulenheiligerBis heute ist der nach ihm benannte Werbeträger zehntausendfach im Gebrauch: die Litfaßsäule. Ernst Litfaß hat Public Relations und Öffentlichkeitsarbeit beherrscht, lange bevor es diese Begriffe gab. Anschlagzettel und Plakate wurden wild auf Hauswände, Zäune und sonstige öffentlich sichtbare Flächen geklebt. Das missfiel nicht nur dem Berliner Druckereibesitzer und Verleger Ernst Litfaß, sondern auch dem gestrengen Polizeipräsidenten Karl Ludwig von Hinckeldey. Diesem kam ein Angebot des umtriebigen Litfaß gerade recht. Er wollte die alleinige Konzession zur Aufstellung von Anschlagsäulen in der preußischen Hauptstadt. Dem preußischen Beamten Hinckeldey konnte er dies schmackhaft machen, indem er ihm die Möglichkeit eröffnete, eine Zensur gegen den Plakatanschlag einzuführen. Litfaß erhielt 1854 die Konzession zur „Errichtung einer Anzahl von Anschlagsäulen auf fiskalischem Straßenterrain zwecks unentgeltlicher Aufnahme der Plakate öffentlicher Behörden und gewerbsmäßiger Veröffentlichungen von Privatanzeigen“. Außer den neu zu errichtenden Säulen umfasste der Vertrag auch bereits bestehende Brunnen und Pissoirs, die Litfaß mit Holz verkleiden ließ, um sie für den Plakatanschlag zu nutzen. Ordnung als Geschäftsidee: Die Anschlagsäulen waren anfangs in Berlin umstritten. Litfaß wusste das und startete eine intensive Presse- und Werbekampagne für das neue Medium. Die Idee für die Säule hatte er übrigens von Reisen aus London und Paris mitgebracht, was er aber nicht an die große Glocke hängte. Um die Berliner neugierig zu machen und für sein Vorhaben zu gewinnen, kooperierte er mit einer Tageszeitung, die fortlaufend und wohlwollend über den Entwicklungsstand des verheißungsvollen Projekts berichtete. Bald schon stand das Fundament der ersten Probesäule vor dem Haus seiner Druckerei. Und die Zeitungsleser erfuhren auch, wie die künftige Uniform der „Anschlagspediteure“ aussehen würde: Für die Plakatkleber waren eine graue Bluse mit roten Biesen, ein schwarzer Hut und ein Schild aus Messing vorgesehen. Großformatige Anzeigen in allen wichtigen Berliner Zeitungen kurz vor dem 1. Juli 1855 kamen hinzu, um an diesem Tag den „Geburtstag“ der Litfaßsäule zu feiern. Die Berliner strömten herbei und hörten zunächst ein kleines Platzkonzert: Es erklang erstmals die „Ernst-Litfaß-Annoncir-Polka“ des damals berühmten Komponisten Kéler Béla. Nun war Litfaß in seiner Heimatstadt zum „Reklamekönig“ oder, spöttisch-liebevoll, zum „Säulenheiligen“ geworden. Aus einer alten Buchdruckerfamilie stammend, hatte Ernst Litfaß 1845 den väterlichen Betrieb mit Druckerei und Verlag übernommen. Sein breites kulturelles Interesse, besonders an Literatur und Theater, nutzte er für verlegerische Aktivitäten. Im Auftrag von sieben Theatern gab er die „Theater-Zwischen-Acts-Zeitung“ heraus. Ein Erfolg, denn sie enthielt nicht nur die aktuellen Theaterzettel mit der Besetzung der Inszenierungen, sondern auch Berichte und Feuilletons und kostete trotzdem nicht mehr als der einfache Theaterzettel bisher. Seine Druckerei modernisierte er ständig. Er betrieb mehrere Schnellpressen, was die Kosten senkte, konnte Riesenplakate im Format von 6,28 mal 9,42 Meter drucken und war der Erste in Berlin, der sich an den Buntdruck wagte. In den Kriegsjahren 1866 und 1870/71 bekam Litfaß, inzwischen zum Kommissionsrat und Königlichen Hofbuchdrucker avanciert, die alleinige Konzession für die Erstveröffentlichung von Kriegsdepeschen. Das bedeutete einen weiteren geschäftlichen Erfolg, denn die offiziellen Nachrichten lockten viele Interessenten an die Litfaßsäulen. So erhielten auch die Reklameplakate höhere Aufmerksamkeit, was die Werbekunden zu schätzen wussten. Doch Litfaß wollte nicht als Profiteur der militärischen Nachrichtenvermittlung gelten. Er organisierte Wohltätigkeitsveranstaltungen, die er „patriotische Feste“ nannte. Diese beliebten „Litfaß-Bälle“ waren originell gestaltet und hatten Volksfestcharakter. Der Erlös kam zum Beispiel Kriegsinvaliden zugute. Ernst Litfaß starb am 27. Dezember 1874 bei einem Kuraufenthalt in Wiesbaden. Er hinterließ er ein Millionenvermögen. Die ersten Säulen maßen 3,28 Meter in der Höhe und 2,80 Meter im Umfang, hatten einen Schaft aus Eisenblech und waren von einem gusseisernen Palmettenfries bekrönt. Später baute man sie höher; Beton, Eternit und schließlich auch Kunststoff ersetzten das Metall. Das heutige Standardmodell bietet auf einer Standfläche von nur 1,25 Quadratmetern eine Werbefläche von stattlichen 13 Quadratmetern. Nach Angaben des Fachverbandes Außenwerbung gibt es heute deutschlandweit gut 35.000 Litfaßsäulen verschiedener Art. „Die Säule als Form, wie Ernst Litfaß sie einst in Deutschland populär machte, bleibt ein prägendes Medium in der Außenwerbung, obgleich sie sich von der Säule mit geklebten ...
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  • Als Erster mit dem Schiff nach Indien
    2025/05/01
    Als Erster mit dem Schiff nach IndienEr segelte als erster Europäer nach Indien und wurde als kühner Seefahrer gefeiert. Seinem Land erschloss er den lukrativen Gewürzhandel, seine Reisen stehen am Beginn des Kolonialismus. Doch seine Brutalität steht zu Recht in der Kritik. In Hamburg stehen zwei Denkmäler, eines für Christoph Kolumbus und eines für Vasco da Gama. Wer den Zollkanal überquert, um in die Speicherstadt zu gelangen, passiert die beiden steinernen Figuren. Wer war dieser Portugiese, Zeitgenosse des ungleich bekannteren Kolumbus? Vasco da Gama lichtete im Juli 1497 in Lissabon die Anker und landete im Mai 1498 in Calicut (heute Kozhikode) in Indien. Er begründete die Route, auf der bis zur Eröffnung des Suezkanals alle europäischen Schiffe nach Asien fuhren. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts strebte das Königreich Portugal danach, das arabische Monopol im Handel mit indischen Gewürzen zu brechen. Der Seeweg nach Indien, das wusste man, führte um die Südspitze Afrikas: Erstmals 1434 gelang es, Kap Horn zu umsegeln. Die Portugiesen waren in Europa führend als Seefahrernation. Wirtschaftliche wie auch politische Interessen waren die Triebfeder: Es ging darum, neue Länder zu unterwerfen und auszubeuten und den Islam zu bekämpfen. So startete König Manuel I. 1497 eine Expedition nach Indien. Zum Oberbefehlshaber ernannte er den jungen Vasco da Gama, der sich einen Ruf als fähiger Navigator erworben hatte. Als Sohn eines königlichen Beamten wurde er um 1469 geboren. Dass die Reise ein Erfolg wurde, war auch dem Mut des Kommandanten zu verdanken, denn bis dahin fuhren die Schiffe fast nur in Sichtweite der Küsten. Niemand traute sich, unbekannte Ozeane zu durchqueren: Man fürchtete Stürme und Seeungeheuer als tödliche Gefahren. „Um gegenüber der See, dem Wetter, den Mannschaften, den Krankheiten, der Feindseligkeit der Afrikaner, Araber und Inder, dem tropischen Klima und politischen Intrigen bestehen zu können, bedurfte es neben navigatorischer Fertigkeit einer Mischung aus Diplomatie, Entschlossenheit, Schläue, Geistesgegenwart (…) und einer Hartnäckigkeit, die selbst in den hoffnungslosesten Situationen nicht zu erschüttern war“, schreibt Gernot Giertz, Herausgeber der zeitgenössischen Reiseberichte. Als das Flaggschiff „São Gabriel“, vollbeladen mit kostbaren Gewürzen, im September 1498 wieder in Lissabon eintraf, wurde Vasco da Gama triumphal empfangen. Doch er hatte in Indien und Afrika „Hass gegen alles Portugiesische gesät“, wie Giertz feststellt: durch sein stolzes, anmaßendes und skrupelloses Auftreten. 1502 stach Vasco da Gama zu seiner zweiten Indienfahrt in See, diesmal mit 21 schwer bewaffneten Fahrzeugen. Portugals Stellung an der indischen Malabarküste wurde von Vasco da Gama ausgebaut und militärisch gestärkt. Er begründete das portugiesische Kolonialreich in Asien. Gernot Giertz: „Seine zweite Reise hinterließ eine breite Spur von nutzlos vergossenem Blut, fast unvorstellbarer Grausamkeit, Tod und Verderben“. Seitdem herrschten die portugiesischen Vizekönige in Indien mit Raub und Mord und bereicherten sich durch Günstlingswirtschaft, Bestechung und Betrug. Die Kolonie verfiel. König João III., Manuels Nachfolger, wollte die Missstände abstellen. 1524 ernannte er Vasco da Gama zum Vizekönig von Indien und entsandte ihn auf seine letzte Reise dorthin. Nachdem er eine „gnadenlose Säuberungswelle“ (Giertz) in Gang gesetzt und mit rigorosen Verordnungen und drakonischen Strafen gegen Korruption und Misswirtschaft vorgegangen war, starb er drei Monate nach seiner Ankunft, wahrscheinlich an Malaria. Wie ist Vasco da Gama heute zu sehen und zu beurteilen? Im 19. Jahrhundert, der Hoch-Zeit des europäischen Kolonialismus und noch lange danach, galt er – wie Kolumbus – als Pionier, dessen Tat für die Entwicklung der Menschheit von größter Tragweite war. Deshalb errichtete man Denkmäler. Heute werden sie gestürzt. In den USA, aber auch in Südamerika sind seit 2020 zahlreiche Kolumbus-Statuen vom Sockel gestoßen worden – weil sie Rassismus und Kolonialismus verherrlichen würden. Für den Historiker Franz-Josef Arlinghaus besteht Vasco da Gama eigentlich aus drei Personen, auf die sich heute der Blick richtet: Zunächst die historische Figur, um 1500 unterwegs, um das arabische Handelsmonopol zu brechen; dann der Entdecker, den das 19. Jahrhundert aus ihm machte; und schließlich der menschenverachtende Kolonialist, wie ihn heute einige sehen. Aus dieser Perspektive werde der Vasco da Gama des 19. Jahrhunderts angegriffen, nicht der historische. „Die postkoloniale Diskussion tut sich keinen Gefallen, wenn sie zwischen den Epochen nicht genug differenziert“, so Arlinghaus, der in Bielefeld Geschichte des Hoch- und Spätmittelalters lehrt. Das 19. Jahrhundert sei ebenso in den Blick zu nehmen wie die Zeit um 1500, um zu einem differenzierten Urteil zu kommen. Das bedeutet für den Historiker ...
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  • Affe der Macht oder Retter der Verfolgten?
    2025/04/01
    Affe der Macht oder Retter der Verfolgten?Sein mimisches Talent war herausragend, seine Erfolge waren triumphal, seine Inszenierungen setzten Maßstäbe. Seine Person jedoch war hoch umstritten, sein Leben unglücklich. Gustaf Gründgens wurde 1899 in Düsseldorf geboren. Als er 1934 Intendant des Preußischen Staatsschauspiels in Berlin wurde, hatte Gustaf Gründgens, alles erreicht, was ein Theatermann in Deutschland erreichen konnte. Die staatlichen Bühnen führte er zu ungeahntem Glanz. Genau das war der Ehrgeiz des Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring, dem die Staatstheater direkt unterstanden. Göring, der wenig später die Schauspielerin Emmy Sonnemann heiratete, hatte das Amt des Intendanten dem Schauspieler Gründgens angeboten, den er bewunderte, und ließ ihm viele Freiheiten. Seine Rolle als Künstler im Dienst der Nazidiktatur ist krass zwiespältig, die Ambivalenz lässt sich nicht auflösen. Einerseits konnte er als Protegé des mächtigen Göring manchen Schauspielerkollegen helfen, die entweder Juden oder mit einer Jüdin verheiratet oder als Regimegegner gefährdet waren. 1943 erreichte Gründgens, dass der Sänger und Schauspieler Ernst Busch, ein Kommunist, nicht zum Tode verurteilt wurde, sondern zu vier Jahren Zuchthaus. Der Anteil der Nazis im Staatsschauspiel-Ensemble war gering. Die Bühne unter der Diktatur war für den Intendanten ein geschützter, berechenbarer Raum. Rückblickend sprach er von einem „Planquadrat“, auf dem er genau wusste, „wenn ich den Satz sage, geht hinten eine Tür auf, und eine Dame in einem grünen Kleid kommt herein – und nicht ein SS-Mann“. Andererseits verhalf er den mörderischen Machthabern zu einem beachtlichen kulturellem Renommee und machte sie damit ein Stück weit salonfähig. Dabei war Gründgens selbst schon allein wegen seiner Homosexualität eindeutig gefährdet. Es war ein Tanz „auf dem Rasiermesser“, stellte Carl Zuckmayer später fest. Die Heirat mit der Kollegin Marianne Hoppe 1936 sollte dem Gerede über seine sexuelle Orientierung entgegenwirken. Mit begrenztem Erfolg, wie der Spottvers zeigt, der damals entstand: „Hoppe hoppe Gründgens, die kriegen keine Kindgens, und wenn die Hoppe Kindgens kriegt, dann sind sie nicht von Gründgens nicht.“ Klaus Mann, ältester Sohn von Thomas Mann, kannte Gründgens gut, denn dieser war von 1926 bis 1929 mit seiner Schwester Erika verheiratet gewesen. In dem Roman „Mephisto“, 1936 im Exil erschienen, gibt Klaus Mann dem Schauspieler Hendrik Höfgen deutliche Züge seines vormaligen Schwagers. Und nach einer erfolgreichen Hamlet-Premiere lässt er in einem inneren Monolog den Hamlet zu seinem Darsteller sagen, er sei „ein Affe der Macht und ein Clown zur Zerstreuung der Mörder“. Der Theaterwissenschaftler und Gründgens-Biograf Thomas Blubacher spricht von einem „schillernd widersprüchlichen Menschen, der sicher als Nutznießer des Dritten Reiches betrachtet werden kann, der sich aber auch erfolgreich für Kollegen eingesetzt hat“. Gerade in solchem Einsatz sieht Klaus Mann in seinem Roman egoistische Motive: Sie beruhigen nicht nur das Gewissen des Karrieristen Höfgen alias Gründgens, sondern sind auch „Rückversicherungen“, die er „sich ohne gar zu große Risiken leisten durfte“: für seine Reinwaschung, wenn das NS-Regime eines Tages nicht mehr bestehen sollte. Tatsächlich war es 1946 Ernst Busch und anderen zu verdanken, dass Gründgens nach neun Monaten aus einem sowjetischen Internierungslager entlassen wurde. Nun konnte er in der Bundesrepublik erneut eine glänzende Karriere beginnen. Gründgens und später sein Erbe haben jahrzehntelang juristisch verhindert, dass das Buch in Westdeutschland erscheinen konnte. Das geschah erst 1980. Doch Klaus Mann hatte beteuert, sein „Mephisto“ sei kein Schlüsselroman: „Mir lag nicht daran, die Geschichte eines bestimmten Menschen zu erzählen […] Mir lag daran, einen Typus darzustellen und mit ihm die verschiedenen Milieus (mein Roman spielt keineswegs nur im ‚braunen‘), die soziologischen und geistigen Voraussetzungen, die solchen Aufstieg erst möglich machten.“ Dennoch: Die Übereinstimmungen bis ins Detail, nicht nur mit der Hauptfigur, liegen auf der Hand. Aber trotzdem, erklärt Thomas Blubacher, „erzählt der Roman beispielhaft etwas Allgemeingültiges“. Wie aber konnte Gründgens im Faschismus künstlerisch bestehen? Hat er seinen Anspruch verraten? Keineswegs, meint Blubacher. Seine „werkintegren“ Klassikerinszenierungen in Verbindung mit höchster handwerklicher Professionalität waren ihm „eine Möglichkeit, den ‚heiligen Raum‘ des Theaters freizuhalten von nationalsozialistisch-propagandistischer Indienstnahme“, so der Experte. Sein „hoher und strenger Stil“ habe durchaus ins System gepasst. Er musste sich also gar nicht in den Dienst des plumpen „Überwältigungtheaters“ der Nazis stellen – anerkennend urteilte später der ...
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  • Parkinson
    2025/03/12
    Arzt, Geologe, Sozialreformer, MenschenfreundSein Name ist untrennbar mit der Krankheit verbunden, die er als erster beschrieben hat. Doch James Parkinson war weit mehr als ein Arzt. Es ist eine kurze Arbeit, die dem Mediziner James Parkinson dauerhafte Bekanntheit einbrachte: „Ein Essay über die Schüttellähmung“ aus dem Jahr 1817. Er berichtet darin lediglich über sechs Fälle, nur drei davon hat er selbst eingehend untersucht. Doch die Symptome beschreibt er treffend: „Unwillkürliche, zitternde Bewegungen, verbunden mit verminderter Muskelkraft, zeitweise selbst mit Unterstützung völlig unbeweglich; Neigung zu vornübergebeugter Körperhaltung und zum Übergang von einer laufenden in eine vorwärts rennende Bewegung; die Sinne und der Intellekt bleiben unbeeinflusst.“ Heute ist die Paralysis agitans nach ihm benannt: Parkinson-Krankheit. 60 Jahre nach Parkinsons Tod 1824 prägte der französische Neurologe Jean-Marie Charcot bereits die Bezeichnung „Maladie de Parkinson“ und empfahl seinen Studenten wärmstens die Lektüre: „Lesen Sie das ganze Buch und es wird Ihnen Befriedigung verschaffen und Wissen vermitteln, wie man es immer gewinnen kann von der direkten klinischen Beschreibung bei einem ehrlichen und sorgfältigen Beobachter.“ Und heute? Weder Parkinson noch Charcot konnten ahnen, dass das Absterben der Dopamin produzierenden Nervenzellen im Hirnstamm eine Schlüsselrolle spielt, schreibt die Medizinjournalistin Sabine Schuchart im Deutschen Ärzteblatt: „Aber die eigentliche Ursache der Erkrankung kennen wir auch 200 Jahre nach Parkinsons Entdeckung nicht.“ Die Krankheit ist bis jetzt nicht heilbar. Allein in Deutschland leiden 400.000 Menschen an Morbus Parkinson. Ein beherrschendes Lebensthema des Mediziners James Parkinson aber war nicht die Krankheit, die er als erster beschrieb, sondern der Einsatz für Unterprivilegierte, Arme und Schwache. Er wurde 1755 als Sohn eines Chirurgen und Apothekers in London geboren, übernahm dann die Praxis seines Vaters in einem Londoner Armenviertel. Und er wurde Mitglied von politischen Vereinigungen, die sich für eine grundlegende Reform der Steuer und des Strafvollzugs einsetzten. Es war die Zeit der Französischen Revolution. Unter dem Pseudonym „Old Hubert“ veröffentlichte Parkinson antiroyalistische Schriften. 1795 wurde König George III. in London von einer aufgebrachten Menge mit dem Ruf nach Brot, Frieden und gleichem Wahlrecht angegriffen, am Ende war ein Loch in der Fensterscheibe der Staatskarosse. Auch der Armenarzt Parkinson war angeklagt, zu den Aufrührern zu gehören, wurde aber freigesprochen. Der vielseitige Doktor interessierte sich aber auch für Geologie und Paläontologie und trug eine Sammlung von Fossilien zusammen, die über England hinaus berühmt wurde. Er war Mitbegründer der bis heute bestehenden „Geological Society of London“, der weltweit ältesten geologischen Organisation. Als er öffentlich erklärte, vor Tausenden von Jahren seien in England gigantische Reptilien herumgelaufen, rieten ihm wohlmeinende Freunde, darüber zu schweigen, um seinem wissenschaftlichen Ruf nicht zu schaden. Von Dinosauriern hatte man damals noch nichts gehört. Seine Bücher richteten sich oft an medizinische Laien, etwa mit gesundheitlichen Ratschlägen, Grundkenntnissen der Chemie oder der Warnung vor Unfallgefahren. Mit der damaligen Ausbildung von Ärzten setzte er sich kritisch auseinander. Gemeinsam mit seinem Sohn John veröffentlichte er 1812 den ersten englischen Aufsatz über Blinddarmentzündung als Todesursache. Er schrieb außerdem über Kindesmissbrauch und psychische Krankheiten, die er als Mitarbeiter einer privaten psychiatrischen Klinik kennengelernt hatte, und engagierte sich für menschenwürdige Zustände in den sogenannten „Mad-Houses“, auf Deutsch damals „Irrenanstalten“ genannt. „Parkinsons breites wissenschaftliches Interesse und sein Engagement für soziale Gerechtigkeit sind für uns Inspiration und Ansporn“, würdigt ihn Joseph Claßen, erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen (DPG), die die Erforschung der Krankheit fördert. Die DPG fühle sich auch der Persönlichkeit Parkinsons verpflichtet. Bei Diagnostik und Behandlung seien entscheidende Fortschritte zu verzeichnen, vor allem in der medikamentösen Therapie, die das fehlende Dopamin ersetze, erklärt Claßen: „Für viele Patienten ein erheblicher Gewinn an Lebensqualität.“ Es habe zuletzt „einige denkwürdige Veröffentlichungen von verschiedenen Ansätzen gegeben, die darauf hindeuten, dass die Krankheit verlangsamt werden kann oder sogar zum Stehen gebracht werden kann.“ Allerdings, betont der Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Leipzig, sei 200 Jahre nach Parkinsons Tod trotz erheblicher Fortschritte „eine vollständige Heilung noch nicht in greifbarer Nähe.“
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  • Ist Gott Quere?
    2024/12/15
    Ist Gott queer?Eine Predigt im Abschlussgottesdienst des Kirchentages in Nürnberg 2023 hat viel Zustimmung bekommen, aber auch Hasskommentare hervorgerufen. Einen fruchtbaren Dialog über die Aussage „Gott ist queer“ gab es leider fast gar nicht. „Jetzt ist die Zeit zu sagen: Gott ist queer.“ Für diesen Satz in seiner Predigt im Schlussgottesdienst des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg hat er viel Beifall bekommen. Pastor Quinton Ceasar musste aber auch hasserfüllte Reaktionen aushalten, mörderische Wut, widerliche Vernichtungsfantasien. Das ist schlimm. Und dass nicht wenige dieser bösartigen Beleidigungen von Christen kamen, die den Prediger am liebsten jetzt schon in der Hölle sehen würden – das ist noch schlimmer. Über seine Predigt darf und soll man diskutieren, auch streiten. Doch wenn man sich öffentlich über theologische Aussagen austauscht, dürfen zumindest menschlicher Anstand und Höflichkeit erwartet werden. Gerade unter Christen, die im Gegenüber ein Ebenbild Gottes sehen, bitte nicht ohne Respekt, besser noch: nicht ohne Liebe. „Wir vertrauen eurer Liebe nicht“, hat der schwarze Pastor aus Ostfriesland gesagt. „Meine Geschwister und ich: Wir haben keinen sicheren Ort in euren Kirchen.“ Zugegeben, das macht eine liebevolle Antwort nicht gerade leicht. Zugegeben, er hat provoziert, wollte wahrscheinlich bewusst einen Stachel ins Fleisch seiner selbstzufriedenen Kirche setzen. Das rechtfertigt natürlich in keiner Weise die Hasskommentare. Sie zeugen, so glaube ich, von einer tiefen Unsicherheit: Scheinbare Gewissheiten, die man für die Fundamente des Glaubens hält, stehen plötzlich in Frage. Das verstört und führt zu verstörenden Reaktionen.Ceasar hat mit seiner Predigt provoziert und polarisiert. Dass sich das Kirchentagspräsidium angesichts der menschenverachtenden Kommentare hinter ihn stellte, ist selbstverständlich. Doch die extremen Reaktionen – begeisterte Zustimmung einerseits, wütende Ablehnung andererseits – stehen leider einem fruchtbaren Dialog im Weg. Sie blockieren ihn.Dieser Dialog unter evangelischen Christenmenschen ist aber notwendig. Dabei hilft, wie auch sonst sehr oft, die Tugend des dialektischen Denkens. Ich versetze mich in den anderen hinein und schaue, so gut ich kann, aus seinem Blickwinkel auf mich selbst. Was bewegt ihn, was treibt ihn an? Man muss nicht alles teilen, was Quinton Ceasar damals auf dem Nürnberger Hauptmarkt gesagt hat. Also: Ist Gott queer? Queere Christen zeigen immer häufiger Gesicht. Gut so. Sie feiern Regenbogengottesdienste. Sie fordern Anerkennung und Gleichberechtigung als Christen. Richtig. Sie betonen, dass queere Menschen in den Gemeinden schon lange da sind. Der Verweis auf die Ebenbildlichkeit aller Menschen ist ein starkes Argument. Die Schöpfungsgeschichte, aus queerer Perspektive gelesen, besagt: Gott hat alles geschaffen, Mann und Frau und alle anderen dazwischen. Gott passt nicht in menschliche Vorstellungen und Bilder.Die Theologin Kerstin Söderblom sagt: „Nach diesem Verständnis kann Gott als ‚queer‘ bezeichnet werden. Denn der Begriff ‚queer‘ kritisiert alle zweigeschlechtlichen und heteronormativen menschlichen Kategorien. Gott ist in diesem Sinn ganz anders, jenseits von menschlichen Schubladen und unverfügbar für menschliche Normen und Bewertungen.“ So weit Kerstin Söderblom.Aber ist „queer“ nicht auch wieder genau das: eine menschliche Norm und Bewertung? Wenn Gott „queer“ ist, entzieht er sich zwar der zweigeschlechtlichen und heteronormativen Kategorie. Aber wird er nicht in eine neue Schublade eingesperrt?Deshalb bin ich sehr skeptisch bei Aussagen über das Wesen Gottes. „Gott ist…“ – Sätze, die so beginnen, haben schon viel Unheil angerichtet. Nicht umsonst steht das Bilderverbot gleich am Beginn der Zehn Gebote. Angesichts der Unbegreiflichkeit Gottes neigen Menschen schon immer dazu, sich ein Bildnis von ihm zu machen – das weiß die Bibel und bietet zugleich eine Fülle wunderbarer sprachlicher Bilder: keineswegs nur Herr oder König, sondern auch Vater, der sich seiner Kinder erbarmt, oder Mutter, die ihren Mantel schützend ausbreitet. Gott ist eine Burg, eine Zuflucht. Unter seinem Schirm oder unter dem Schatten seiner Flügel bin ich geschützt. Gott ist Sonne und Schild. Er ist Hirte. Richter. Er ist wie ein athletischer Mensch: „du hast einen gewaltigen Arm“, betet der Psalmist, „stark ist deine Hand, und hoch ist deine Rechte“. Mit einem Winzer vergleicht der Prophet Jesaja den Gott Israels, und sein gottvergessenes Volk mit einem Weinberg, der trotz bester Hege und Pflege nur schlechte Früchte bringt.Ja, es gibt das Risiko, dass Gott in das Gefängnis der begrenzten menschlichen Vorstellungskraft eingesperrt wird – mit verheerenden Folgen. Menschen machen sich einen Entwurf von Gott, der ihren Zwecken dient. Menschen basteln sich ihren Gott, mit dem sie sich einrichten und der für vieles ...
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  • Düstere Zukunftsvision oder beißende Satire
    2024/11/15
    Düstere Zukunftsvision oder beißende Satire?„Big Brother is watching you“ – der Satz aus George Orwells Roman „Neunzehnhundertvierundachtzig“ ist zum Inbegriff für den totalen Überwachungsstaat geworden. Das Buch erschien 1949 und wurde ein Welterfolg.Diese Diktatur versucht gar nicht erst, ihre Grausamkeit als hehres Anliegen zu verbrämen. Sie gibt sich keine Mühe, menschenverachtende Gewalt als harte, aber notwendige Maßnahme erscheinen zu lassen, die dem Wahren und Guten dient. Das unterscheidet das Leben in George Orwells Roman „Neunzehnhundertvierundachtzig“ von realen totalitären Systemen. Ob unter Hitlers oder Stalins Tyrannei oder in gegenwärtigen Diktaturen – immer wird der Bevölkerung vorgegaukelt, das Regime sei im Recht und führe das Volk in eine strahlende Zukunft.Orwells Protagonist Winston versteckt sich mit seiner Geliebten Julia vor der totalen Überwachung, ist aber von Anfang an im Visier der allmächtigen Partei. Er wird überführt, verhaftet und gefoltert. Und sagt irgendwann zu seinem Peiniger: „Ihr herrscht über uns zu unserem eigenen Besten.“ Winston wird belehrt: „Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an. Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen. (…) Macht ist kein Mittel, sie ist ein Zweck. (…) Der Zweck der Macht ist die Macht.“In Orwells Roman ist die Überwachung total. Dem allgegenwärtigen Bildschirm (telescreen) entgeht nichts. Das Gerät ist zugleich Sender und Empfänger, selbst in Privatwohnungen kann es nicht abgeschaltet werden. Auch wenn andere Technik wie Rohrpost oder Wachswalzen-Tonaufnahmen heute altertümlich anmutet, funktioniert die Kontrollmaschinerie perfekt. Die Gedankenpolizei verfolgt abweichendes Denken, Kinder denunzieren ihre Eltern. Die Sprache wird so umgekrempelt, dass bestimmte Begriffe und Gedanken, die dem System widersprechen, nicht mehr möglich sind. Das Ergebnis: eine „Neusprache“ (Newspeak).Es mag scheinen, als hätte die Wirklichkeit von 2024 Orwells Welt eingeholt. In China gibt es Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, ebenso Geschichtsverfälschung. Eine ganze Generation hat vom Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 noch nie gehört. In Russland biegt Putin die russische und ukrainische Geschichte zurecht, um seinen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Wer diese „militärische Spezialoperation“ Krieg nennt, wird bestraft. In den USA sprach eine Beraterin Präsident Trumps 2017 von „alternativen Fakten“, um offensichtlich falsche Aussagen zu seiner Amtseinführung zu rechtfertigen.Orwell, 1903 im damaligen Britisch-Indien als Eric Arthur Blair geboren, nahm 1936 als Freiwilliger auf republikanischer Seite am Spanischen Bürgerkrieg teil. Dort begegnete ihm Terror, der seiner Vorstellung von einem „demokratischen Sozialismus“ krass widersprach. Der „Große Bruder“, Personifizierung der Macht in Orwells Roman, trägt Züge Stalins.Häufig wird „Neunzehnhundertvierundachtzig“ als Warnung vor politischem Totalitarismus verstanden. Ralph Pordzik, Professor für Englische Literatur- und Kulturwissenschaft in Würzburg, weist jedoch darauf hin, dass „Nineteen Eighty-Four“ eher eine gelungene Satire als eine „ernstzunehmende Warnung vor einer unbestimmten Zukunft“ ist. Denn der Roman enthält einen Anhang, „der aus der Perspektive der Nachzukunft geschrieben ist“ und über die Welt von „Neunzehnhundertvierundachtzig“ in der Vergangenheit spricht.Daraus ergebe sich, „dass Orwell selbst an eine Überwindung derart repressiver Systeme mithilfe der sprachlichen Vernunft gedacht haben muss“, erläutert Pordzik. „Die Welt, in der Winston Smith 1984 lebte, ist also selbst irgendwann untergegangen, vermutlich weil die Reprogrammierung der Bevölkerung durch eine künstliche Sprache, das Newspeak, gescheitert ist.“Gerade in der Sprache sieht der Anglist „ein starkes Instrument der satirischen Grundausrichtung des Romans, mit der Orwell auf eine Kritik der hohlen Phrase und der sperrenden Katalogsprache ideologischer Fraktionen in den von Polarisierung geprägten 1940er Jahren abzielt.“ Die Gefahr der Plattitüde lauere überall, wo der Bevölkerung schlichte Botschaften vermittelt werden sollen. „Sprachliche Mehrdeutigkeiten und interpretative Freiräume müssen zum Erreichen dieses Ziels unbedingt unterbunden werden.“In den Staaten des Ostblocks war das Buch verboten, weil es den Sozialismus verunglimpfe. Heute ist es in Belarus verboten. „Politische Systeme, die ‚Nineteen Eighty-Four‘ verbieten, sind sich der Potenziale dieses außergewöhnlichen Romans, autoritäre Herrschaftsformen herauszufordern und radikal in Frage zu stellen, offensichtlich bewusst“, erklärt Pordzik. „Sie fürchten sich davor, zur Karikatur oder Zielscheibe satirischer Darstellungen zu werden, vor allem, wenn diese mit subtilen ästhetischen Mitteln inszeniert werden.“ So werde die schon häufiger für tot erklärte Fähigkeit der Literatur unter ...
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  • Der germanische Dreiklang
    2024/10/15
    Der germanische DreiklangDie Reichsmusiktage 1938 in Düsseldorf verfolgten das Ziel einer „reinrassigen“ Kunst – und offenbarten dabei manche Widersprüche. Eine „Heerschau deutscher Tonkunst“ sollten sie sein, eine „Olympiade deutscher Musik“, jubelte die gleichgeschaltete Presse: die Reichsmusiktage, 1938 auf Initiative des Propagandaministeriums von der Reichsmusikkammer und der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ in Düsseldorf veranstaltet.Der feierlichen Eröffnung am 22. Mai, dem 125. Geburtstag von Richard Wagner, folgten acht Tage mit einem dicht gefüllten Programm: Drei Sinfoniekonzerte, vier Werkkonzerte bei Rheinmetall-Borsig und in anderen Betrieben, Platzkonzerte an verschiedenen Stellen der Stadt, Kammermusiken, Chorkonzerte, ein musikalischer Tee-Empfang auf der Rheinterrasse, Offenes Singen, dazu Tagungen (zum Beispiel über „Musik und Rasse“). Offizieller Höhepunkt: die „Kulturpolitische Kundgebung“ mit Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, eingeleitet von einem „Festlichen Vorspiel“, komponiert und dirigiert von Richard Strauss. Er und Hans Pfitzner, dessen Kantate „Von deutscher Seele“ erklang, waren die etablierten Tonsetzer im Dienst des Naziregimes, ansonsten standen Werke der deutschen Klassik und Romantik auf dem Programm. Die damals jungen Komponisten, die in Düsseldorf uraufgeführt wurden, sind heute vergessen. Die von zentraler Stelle durchgeführten Reichsmusiktage sollten die glanzvolle Überlegenheit deutscher Musik machtvoll zum Ausdruck bringen, repräsentativ und populär, auf Grundlage der rassisch begründeten Musikpolitik des „neuen Deutschland“, mit dem Anspruch auf Totalität und Zukunft. Aber: „Die Verbrüderung der Volksgenossen mit Hilfe der Musik funktionierte nur mittels aggressiver Abgrenzung gegen ‚Andersartiges‘“, so der Düsseldorfer Journalist Werner Schwerter: „Der mörderische Antisemitismus war nicht einfach ein Ausrutscher – er gehörte untrennbar dazu, war Programm und Kalkül von Anfang an, auch wenn man bei Beethovens Neunter gerade daran nicht denken mag.“Das Ziel einer von Rassegesetzen diktierten Kunst war gerade in der Musik nicht immer klar und eindeutig zu erreichen. Die Nazi-Kulturpolitik hatte den Anspruch, Ordnung zu schaffen, verbindliche Maßstäbe zu setzen und Feinde auszumerzen. Musikalische Hauptgegner wurden unter den Etiketten „Atonalität“ und „Jazz“ angegriffen und als schädlich für das deutsche Wesen gebrandmarkt. Dahinter, so die Parteilinie, stand natürlich das internationale Judentum, dessen verderblicher Einfluss mit dem Sieg der „nationalen Revolution“ in Deutschland ein Ende gefunden hatte.Aber gerade auf dem Gebiet der Musik führte dies oft zu Widersprüchen, Unsicherheit und Verwirrung. Warum sollte sich die musikalische Sprache des Juden Felix Mendelssohn Bartholdy plötzlich grundlegend von der seiner romantischen Zeitgenossen unterscheiden? Warum sollte der Dreiklang „germanischer“ Natur sein, warum der Jazz „undeutsch“? „Der Rassismus hatte auch die deutsche Musikkritik aller Urteilsgrundlagen beraubt“, stellt Werner Schwerter fest: „Sollte man es sich fortan einfach machen: Stammbaum als Maßstab? Das konnte nicht funktionieren.“ Schwerter weist darauf hin, dass es jüdische Komponisten gab, die ganz dem vermeintlich arischen Harmonieverständnis entsprachen. Und umgekehrt Arier, die atonal experimentierten. So viele Ausnahmen – „dass letztlich keine Regeln mehr galten, obwohl doch alles geregelt sein sollte.“ Ein Ereignis im Rahmen der Reichsmusiktage, an dem sich solche Widersprüche besonders deutlich zeigten, war die Hetzschau „Entartete Musik“ (in Anlehnung an die im Vorjahr gezeigte Ausstellung „Entartete Kunst“). Die Idee hatte der Generalintendant des Deutschen Nationaltheaters in Weimar, Hans Severus Ziegler. „Was in der Ausstellung ‚Entartete Musik‘ zusammengetragen ist, stellt das Abbild eines wahren Hexensabbath und des frivolsten, geistig-künstlerischen Kulturbolschewismus dar und ein Abbild des Triumphes vom Untermenschentum, arroganter jüdischer Frechheit und völliger geistiger Vertrottelung“, sagte er in seiner Eröffnungsrede. Die Ausstellung, die dem Publikum die Auflösung „unserer arischen Tonordnung“ vorführen sollte, enthielt Nischen, wo man auf Knopfdruck Schallplatten mit Beispielen der verpönten Klänge hören konnte. Die Trennwände dieser Boxen hielten aber den Schall nicht ab: eine beabsichtigte Kakophonie sollte Zieglers „Hexensabbat“ zeigen. „Ein erschreckend billiger und doch raffiniert berechneter Trick, dessen verheerender Wirkung auf die Besucher man sich von vorneherein sicher sein konnte“, sagt dazu der Musikwissenschaftler Albrecht Dümling. Doch nicht alle ließen sich abschrecken: Der Musikkritiker Heinrich Strobel erinnert sich später, dass die meisten Besucher just in den Saal kamen, wo Songs aus der „Dreigroschenoper“ erklangen: „...
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